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Ilka Schröder

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Atom | Denkpause 8 | 24.07.00

Der »Konsens« ist nicht demokratisch

L´etat c´est
Atomindustrie

Atomkonsens, Rentenkonsens, Steuerkonsens, Bündnis für Arbeit, Einwanderungskonsens - die korporatistische Modernisierung des parlamentarischen Kapitalismus treibt kontinuierlich neue Blüten. Für ihre Mitsprache übergeben die Industriebosse heute vermutlich weniger Geldkoffer als unter Kanzler Kohl. Die Gegenleistungen der Politik aber werden immer besser: Statt der inoffiziellen Mitberatung im Hinterzimmer bekommen Unternehmen jetzt ganz offen das Recht, an Gesetzesinitiatiativen mitzuwirken.

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Wer hätte gedacht, daß im Jahr 2000 Linke die freiheitlich-demokratische Grundordnung gegen ihre wirtschaftsliberalen Angreifer aus der Mitte und von rechts verteidigen müssen?
Programmtreue oder die Einhaltung von Wahlversprechen sind keine Eigenschaften, die man Mitgliedern von Regierungen und Parlamentsfraktionen pauschal zuschreiben würde. Mit der Verfassungstreue ist das nach dem Angriffskrieg auf Jugoslawien auch so eine Sache. Eine neue Dimension eröffnet der Atomkonsens: Die Idee einer parlamentarischen Demokratie, in der ein gewählter Bundestag Entscheidungen im Staat trifft, ist nur noch Theorie.

Daß die Exekutive einen großen Teil der Gesetze selbst der Legislative vorlegt, ist ein altbekanntes Problem.
Wenn der Deutsche Bundestag in Zukunft über atompolitische Gesetzesnovellen abstimmt, dann kommt der Text jedoch von noch geringer legitimierten Akteuren. In geheimen Verhandlungen entwickelten Regierungsvertreter und Konzernchefs ein Papier, das den Energieversorgungsunternehmen (EVU) einen hohen Einfluß auf die Gesetzgebung in der BRD zubilligt. Im Ergebnis verpflichtet sich die selbstentmachtete Bundesregierung nicht nur, den »ungestörten Betrieb der Kernkraftwerke, wie auch deren Entsorgung« zu gewährleisten, sondern schafft auch umfangeiche Mitbestimmungsmöglichkeiten für die EVU: »Die Bundesregierung wird auf Grundlage dieser Eckpunkte einen Entwurf zur Novelle des Atomgesetzes erarbeiten.« Sie kann also eigenverantwortlich entscheiden, ob sie ein Komma oder ein Semikolon zwischen die Betriebsgarantie und die Wettbewerbsfähigkeit schreibt - der Rest muß dem Verhandlungsergebnis entsprechen.
Nicht nur über den Text des Gesetzes, sondern auch »über die Umsetzung der AtG-Novelle wird auf der Grundlage des Regierungsentwurfs vor der Kabinettsbefassung zwischen den Verhandlungspartnern beraten«.
Sogar bei den Sicherheitsüberprüfungen dürfen die EVU über den Zeitpunkt mitbestimmen, wann diese stattfinden sollen: Laut Koalitionsvertrag zwischen SPD und Grünen sollten alle AKW binnen eines Jahres nach der AtG-Novelle durchgecheckt werden. Jetzt soll die erste Überprüfung einiger AKW erst zum 31.12.2009 erfolgen. Aber auch hier gibt es einen Ausweg: Die in den drei Jahren nach dem vereinbarten Termin auszuschaltenden Reaktoren brauchen nicht überprüft zu werden. Alter schützt offenbar vor Störungen.
Damit eine demokratisch gewählte Regierung den Atomkraftwerksbetreibern die unter deren Mitwirkung erschaffenen Gesetze nachher nicht knallhart um die Ohren haut, gibt es eine Art Betroffenenvertretung der EVU. Diese Selbsthilfegruppe ist bei allen wichtigen Fragen des Weiterbetriebs der Atomanlagen beteiligt. Sie wird an der Fortentwicklung eines Leitfadens für ihre eigenen Sicherheitsüberprüfungen mitwirken.
Die Umsetzung der Atom-Vereinbarung wird von einer sogenannten »Mentoring-Gruppe« begleitet, die jeweils zur Hälfte mit VertreterInnen der Betroffenen (Atomindustrie) und der Bundesregierung besetzt ist.
Die undemokratische Entscheidung für den Weiterbetrieb der Atomanlagen ist kein Einzelfall - das Ergebnis des »Bündnis für Arbeit« wird im Grundsatz ähnliche Bestimmungen enthalten: Die Selbstentmachtung der Regierung zu Gunsten der Unternehmen.

Eine Erfindung der rot-grünen Bundesregierung ist die Staatsform »konstitutionelle parlamentarische Demokratie unter besonderer Berücksichtigung von UnternehmerInnen« nicht. Die Konsens--Idee ist im linksliberalen Lager schon mit der Verabschiedung der Agenda 21 durch die UNCED-Konferenz 1992 gesellschaftsfähig geworden. Nach anfänglicher Kritik ließ sich ein Großteil der Nichtregierungsorganisationen in runde Tische und Diskussionszirkel einbinden. Im Kapitel »Stärkung der Rolle der Privatwirtschaft« der Agenda 21 werden die Unternehmen als »gleichberechtigte Partner« der Regierungen bezeichnet. Bei Frauen wird dagegen nur eine »aktive Einbeziehung« gefordert, Kinder und Jugendliche sollen nur »aktiv an den Entscheidungsprozessen beteiligt werden«.
Die Staatsform der BRD 2000 als »Konsensdemokratie« zu bezeichnen, wäre verfehlt. Beteiligt sind nur diejenigen, die aufgrund ihrer wirtschaftlichen Stellung ohnehin schon Macht haben - sie bekommen auch noch die legislativen Kompetenzen hinzu.

Wegen der Verschiebung der Debatte in den letzten Monaten und Jahren halte ich es für sinnvoll, hier die (ehemals?) mit der FDGO sympathisierenden Konsens-BefürworterInnen mit ihren eigenen Argumenten zu treffen. Damit bleibt der Beitrag zwangsläufig hinter den Anforderungen an eine politische Analyse der Herrschaftsverhältnisse zurück. Die Mitbestimmung der Industrielobbies bei Gesetzesvorhaben ist nichts Neues oder Ungewöhnliches, wurde aber bisher nicht derart offen schriftlich vereinbart. Bundestag und Bundesregierung sind natürlich nicht demokratisch gewählt: ImmigrantInnen, Kinder, im Untergrund oder obdachlos lebende Menschen können ihre Stimme nicht abgeben - und alle vier Jahre Mitspracherechte zu übertragen, ist nicht gerade radikaldemokratisch. Meine Kritik soll auch nicht bedeuten, daß die Intensität der Machtausübung durch bundesrepublikanische und andere Regierungen überhaupt legitim ist.
Ilka Schröder

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Zum Weiterlesen:

Entlarvende
Gegenüberstellung jüngster Beschlüsse der Grünen mit der Vereinbarung Bundesregierung -- EVU
www.basisgruen.de/gruene/bund/energie/atom/konsens/index.html

Ein rotes Tuch für die Bundesregierung ist die Diskriminierung von Minderheiten - auch in Steuerfragen. Nicht mehr nur MillionärInnen, GroßaktionärInnen und diverse Eheverhältnisse fallen ab sofort unter das Diskriminierungsverbot, sondern auch die Atomkraftwerke und ihre gewinnsüchtigen BetreiberInnen. »Die Bundesregierung wird keine Initiative ergreifen, mit der die Nutzung der Kernenergie durch einseitige Maßnahmen diskriminiert wird. Dies gilt auch für das Steuerrecht.«


Broschüre
»Der große Bluff«. Fragen und Antworten zum »Atomkonsens« - Broschüre im Format A6, 32 Seiten. Preise: 10 Ex. 10 DM, 25 Ex. 20 DM, 50 Ex. 30 DM, 100 Ex. 50 DM, Lieferung nur gegen Vorkasse (Bargeld, Scheck, Briefmarken)
Tolstefanz - Wendländisches Verlagsprojekt
29439 Jeetzel 41

Entlarvende Gegenüberstellung jüngster Beschlüsse der Grünen mit der Vereinbarung Bundesregierung - EVU
www.basisgruen.de/gruene/bund/energie/atom/konsens/index.html

So wäre ein schneller Atomausstieg möglich (Stand: Anfang Januar 2000)
www.ilka.org/material/denkpause/denkpause3c.html

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